Kirchenpräsident Jung zur ForuM-Studie
Liebe Geschwister,
die Veröffentlichung der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt hat viele Menschen in unserer Kirche erschüttert und viele Fragen aufgeworfen. Auch bei mir ist das so.
Es ist furchtbar, wenn Menschen Unrecht und Leid erfahren. Wenn dies in unserer Kirche geschieht, trifft uns das noch einmal in besonderer Weise, denn es steht in völligem Gegensatz zu der Botschaft des Evangeliums, für die wir eintreten.
Insbesondere sexualisierte Gewalt verletzt Menschen zutiefst in ihrer Würde und schädigt lebenslang. Dies hat die Studie zur „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ noch einmal mehr als deutlich gemacht. Die Studie wurde vor drei Jahren von der EKD und allen Landeskirchen in Auftrag gegeben. Die Forschenden arbeiteten unabhängig. Von sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie betroffene Personen wirkten als Co-Forschende mit. Ich bin allen sehr dankbar, die diese Studie erstellt haben.
Jetzt ist es nötig, die umfangreiche Studie sorgfältig zu lesen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dies geschieht auf der Ebene der EKD und in allen Landeskirchen. Verabredet ist, dass Maßnahmen für alle Kirchen gemeinsam mit dem Beteiligungsforum der EKD beraten und beschlossen werden. Ein großes Manko der bisherigen Arbeit nicht erst seit 2010 sind unterschiedliche Vorgehensweisen im Blick auf Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Anerkennung in den einzelnen Landeskirchen. Das wird von betroffenen Personen immer wieder als verstörend und verletzend erlebt.
Die ForuM-Studie ist ein Teil der Aufarbeitung in unserer Kirche. Sie hilft insbesondere, auf wissenschaftlicher Grundlage zu erkennen, wo es in unserer Kirche systemische Risiken und täterschützende Strukturen gibt. Dies ist etwa da der Fall, wo es Abhängigkeitsverhältnisse oder einen unangemessenen Umgang mit Nähe und Distanz gibt. Besondere Probleme gibt es dort, wo in einem falsch verstandenen Harmoniestreben weggesehen wird und dadurch Täter geschützt und gedeckt werden. Auf Grundlage der Studie ist deutlich zu erkennen, dass sich Haltungen und auch Kulturen des Umgangs verändern müssen. Das bedeutet vor allem, in Fällen sexualisierter Gewalt Betroffenen zuzuhören, ihr Leiden anzuerkennen und aktiv aufzuklären.
Kirchenleitend wollen wir alles daransetzen, betroffenen Menschen zu ihrem Recht zu helfen und dafür zu sorgen, dass unsere Kirche mit all ihren Aktivitäten ein sicherer, stärkender Ort für Menschen ist.
Von Seiten der Forschenden wurde kritisiert, dass die Zusammenarbeit mit den Landeskirchen schwierig war. Ich wurde in den letzten Tagen immer wieder darauf angesprochen und gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Ja, es gab in der Anfangsphase insbesondere im sogenannten „Teilprojekt E“ Schwierigkeiten und Fehler. Das Teilprojekt E hat „Kennzahlen zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland und Merkmale des institutionellen Umgangs mit Missbrauchsvorwürfen“ erforscht. Dazu war anfangs unter anderem eine Durchsicht von Personalakten seit 1945 in einer seitens der Forschenden definierten Stichproben vorgesehen. Als sich herausstellte, dass dies einigen Landeskirchen im vorgegebenen Zeitrahmen nicht möglich war, wurde auf EKD-Ebene gemeinsam mit den Forschenden das Forschungsdesign verändert. Es sollte eine Durchsicht aller Disziplinarakten erfolgen.
Verabredungsgemäß hat eine der kleineren Landeskirchen zusätzlich alle Personalakten durchgesehen. Grundsätzlich standen alle Personalakten den Forschenden zur Einsichtnahme zur Verfügung. Dazu wurden auch eigens die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen geschaffen.
Eine Zusammenstellung der Vereinbarungen zur ForuM-Studie finden Sie auf der Webseite der EKD.
Eine detailliere Aufstellung des chronologischen Verlaufs zum Teilprojekt E können Sie auf dieser Seite einsehen.
Von der EKHN wurden alle Erhebungsbögen ausgefüllt und fristgerecht weitergegeben. In die Zählung der ForuM-Studie flossen so aus der EKHN 45 Fälle ein. Gefragt waren die Fälle, bei denen Erwachsene sexualisierte Gewalt an Minderjährigen verübten. Nimmt man weitere Fallkonstellationen hinzu, so sind uns 87 Fälle bekannt – 76 aufgrund von Meldungen betroffener Personen, 11 aus der Aktenrecherche. Dabei ist sehr wahrscheinlich, dass das Dunkelfeld erheblich größer ist.
Bitte nutzen auch Sie in den Kirchenvorständen und Einrichtungen die zur Verfügung stehenden internen wie externen Meldemöglichkeiten. Näheres hierzu finden Sie hier. Auch anonyme Meldungen sind möglich. Wir gehen jeder Meldung nach und werden in Absprache mit betroffenen Personen Verfahren einleiten. Dazu haben wir in der EKHN eine Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt eingerichtet.
Bisherige „Alt-Fälle“ wurden, sofern dies von den betroffenen Personen gewünscht war, von der Fachstelle einer unabhängigen Anerkennungskommission vorgelegt. Die Kirchenleitung hat sich verpflichtet, die Anerkennungsleistungen zu zahlen, die von der Anerkennungskommission festgelegt werden. In einem weiteren nächsten Schritt werden wir gemeinsam mit der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Diakonie Hessen von einer regionalen Aufarbeitungskommission begleitet.
Die Grundlage hierfür wurde vom Beteiligungsforum der EKD mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung entwickelt.
Über all das hinaus gilt es nun, wie oben bereits beschrieben, die ForuM-Studie auszuwerten, Präventionskonzepte zu verbessern und EKD-weit gemeinsame Standards für Intervention, Aufarbeitung und Anerkennung zu entwickeln. Das geht nur, wenn wir uns konsequent der schmerzhaften Erkenntnis stellen, dass sexualisierte Gewalt kein Thema der Vergangenheit ist.
Ich will deshalb noch einmal hervorheben. Es darf nicht unser Ziel sein, unsere Kirche, unsere Einrichtungen und unsere Gemeinden zu schützen. Es geht darum, Menschen vor Übergriffen und Gewalt zu schützen. Das entspricht unserem Auftrag, die Botschaft von der Liebe Gottes zu allen Menschen in Wort und Tat zu bezeugen und zu leben.
Mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit und herzlichen Grüßen
Volker Jung